30 Jahre voller Schmerz – Jahrestag des Brandanschlags von Mölln

Drei Jahrzehnte ist es her: In der Nacht auf den 23. November 1992 warfen zwei Neonazis im schleswig-holsteinischen Mölln Brandsätze in zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser. In einem der Häuser, dem an der Mühlenstraße, starben bei dem Feuer die zehn Jahre alte Yeliz Arslan, die 14jährige Ayse Yilmaz und die 51 Jahre alte Bahide Arslan. Neun Menschen wurden bei den Bränden schwer verletzt.

Jener Anschlag reiht sich ein in eine Welle rechten Terrors zu Beginn der 1990er Jahre in der Bundesrepublik. Neonazis und rassistische Anwohner verübten pogromartige Angriffe auf Asylsuchende, ausländische Vertragsarbeiter und Menschen mit Migrationsgeschichte in Städten wie Hoyerswerda, Rostock oder Solingen. Attacken von Faschisten prägten den Alltag der »Baseballschlägerjahre« in Ballungsräumen ebenso wie auf dem Land.

Selbstbestimmtes Gedenken

Den Opfern von Mölln war am Sonntag in der Hamburger Kampnagel-Fabrik eine berührende Gedenkveranstaltung unter der Überschrift »Möllner Rede im Exil« gewidmet. An ihr nahmen zahlreiche Angehörige der drei Todesopfer und andere Betroffene rechter Gewalt teil. In Auseinandersetzung mit dem offiziellen Gedenken findet seit 2013 jährlich eine Veranstaltung unter diesem Titel statt, und zwar in unterschiedlichen Städten: so in Bremen, Berlin, Frankfurt am Main oder Lüneburg. Initiiert wurde das Gedenken damals von Ibrahim Arslan, dem beim Anschlag geretteten Bruder von Yeliz Arslan, gemeinsam mit seinem Vater Faruk Arslan und dem »Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992«. Ihr Ziel war und ist ein selbstbestimmtes sowie selbstgestaltetes Gedenken, bei dem die Perspektive der Betroffenen im Zentrum steht und auch aktuelle Entwicklungen von Rassismus und rechter Gewalt thematisiert werden können.

In diesem Jahr hielt die Anwältin Katrin Inga Kirstein die Rede. Sie kennt die Familie Arslan seit mehr als 20 Jahren und vertritt sie seit 2008 auch anwaltlich. Wie sie selbst zu Beginn ihrer Ansprache berichtete, hatte sich die Familie schon seit langem die Ansprache von Kirstein in diesem Rahmen gewünscht. Dass das vor 30 Jahren Geschehene in der Öffentlichkeit unter der Kurzformel »Brandanschlag von Mölln« geläufig sei, hebe das Ereignis auf eine symbolische Ebene, erklärte die Anwältin, an die Angehörigen gewandt. So lasse sich aber »nicht einmal im Ansatz verstehen, was es für euch bedeutet«. »Eure Liebsten sind ermordet worden«, fuhr sie fort. »30 Jahre voller Schmerz, der nicht aufhört.«

Die Feuerwehr sichert das völlig ausgebrannte Haus in der Mühlenstraße (Mölln, 23.11.1992)

Gemeinsamer Kampf

In ihrer Arbeit als Opferanwältin werde Kirstein oft gefragt, wie man Angehörigen von Gewaltopfern begegnen solle. Eine Antwort sei, »auch eigene Verletzungen anzuerkennen und zu benennen«. Dann bedeute es, »genau hinzuhören, wenn Betroffene und Angehörige sprechen, mit offenen Ohren und Herzen«. Kirstein wies die Vorstellung zurück, dass Angehörigen von Gewaltopfern vor allem mit einer harten Bestrafung der Täter geholfen sei. Diesen sei in der Regel viel wichtiger, dass sich ähnliche Taten nicht wiederholten. Harte Strafen könnten das Geschehene nicht ungeschehen machen und die Opfer von Gewalt nicht wieder lebendig oder gesund.

Durch das Mandat der Familie Arslan sei die Anwältin erst zur Expertin für das Opferentschädigungsgesetz geworden. Als sie die Akten zu deren Fall durchgearbeitet habe, sei ihr Entsetzen »von Seite zu Seite« größer geworden. Die Vermerke und Gutachten zum Fall der Familie, die sie dabei gelesen habe, hätten nur ein Ziel gehabt – »den Ausschluss von jeder Form von Entschädigung«. Nach der Rede der Anwältin betonte Faruk Arslan, das Finanzielle dürfe nicht im Mittelpunkt stehen. Entscheidend sei, »den Kampf gemeinsam zu gehen«.


In der jungen Welt-Ausgabe vom 23.11.2022 ist außerdem ein Interview von Gitta Düperthal mit dem Sprecher des Dokumentationszentrums und Museums über die Migration in Deutschland (Domid e. V.) Timo Glatz veröffentlicht:

Vor 30 Jahren kamen bei Brandanschlägen im schleswig-holsteinischen Mölln drei Menschen ums Leben. Nach dem rassistischen Angriff vom 23. November 1992 wurden Solidaritätsbriefe verschickt, die Sie dokumentiert haben. Warum wurde die Anteilnahme so lange nicht öffentlich?

Die »Möllner Briefe« enthalten auch Zeichnungen von Kindern

Schon einen Tag nach dem Anschlag wurden erste Briefe verfasst und verschickt: einige direkt an die Angehörigen der Opfer, zum Beispiel an die Familie Arslan. Bei dem Angriff starben die zehnjährige Yeliz Arslan, ihre 51 Jahre alte Großmutter Bahide Arslan und die vierzehnjährige Ayse Yilmaz. Weitere Briefe waren an andere Betroffene des Anschlags, an die Stadt Mölln sowie an deren Oberbürgermeister adressiert. Auf unsere Anfrage an das Stadtarchiv, in dem die Briefe damals lagerten, hieß es: Sofern eine vollständige Adresse des Absenders vorlag, seien alle beantwortet worden. Ibrahim Arslan, einer der neun Verletzten und Überlebenden des Brandanschlags, erfuhr erst 2019, dass das Möllner Stadtarchiv die Briefe aufbewahrt: Durch eine Korrespondenz zwischen den Archiven Mölln und Rostock gab es dort den Hinweis, dass insgesamt 500 Beileids- und Solidaritätsbekundungen in Mölln vorliegen. İbrahim Arslan verlangte deren Übergabe an die Familien. Die Stadt Mölln kam dem Wunsch nach.

Wer trägt politisch Verantwortung dafür, dass die Betroffenen erst so spät Zugang zu den Briefen erhielten?

Ich möchte mich nicht an möglichen Spekulationen beteiligen. Eventuell haben die unterschiedlichen Adressaten bewirkt, dass mit Briefen verschieden umgegangen wurde.

Wie zeigt sich die Anteilnahme in den Briefen?

Eine Frau schickte beispielsweise ein mit der Schreibmaschine getipptes Gedicht, das an den Faschismus erinnert. Darunter schrieb sie: »Es gibt auch andere Deutsche, und wir sind in der Mehrheit. Und wir werden nicht schweigen. Eure Trauer ist auch unsere Trauer.« Ein weiteres Beispiel: Ein zwölfjähriges Mädchen aus Hamburg schrieb, auch sie fühle sich häufig ungerecht behandelt. Seit sie aus der Zeitung vom Schicksal der Familie erfahren habe, komme ihr das aber »wie Kleinkram« vor. Zudem berichtet sie, wie sehr es sie und ihre Schwester belaste, dass ihr Vater »keine Ausländer abkann«. In einem Brief der Lagergemeinschaft Ravensbrück sprachen die überlebenden Widerstandskämpferinnen und Verfolgten des Faschismus den Betroffenen ihre aufrichtige Anteilnahme aus. Die meisten dieser teilweise herzzerreißenden Briefe stammten aus der BRD, einige aber auch aus der Türkei, Griechenland, den Niederlanden, Belgien, Dänemark und den USA.

Wie kamen die Briefe zu Ihrem Verein?

Die Familie Arslan beriet sich mit anderen Betroffenen. Sie beschlossen, die Briefe unserem Archiv zur Aufbewahrung zu übergeben. Das ist ein großer Vertrauensbeweis. Bei uns lagerten bereits zuvor Fotos der Familie, auch von der beim Anschlag getöteten Bahide Arslan, der Großmutter von Ibrahim Arslan. Mittels dieser Objekte können wir ihre Familiengeschichte erzählen. Wir haben die Mittel dazu, solche Unterlagen langfristig nach Standards der Archivtechnik aufzubewahren.

Welche zeitgeschichtliche Sammlung beherbergt Ihr 1990 gegründetes Dokumentationszentrum insgesamt?

Wir dokumentieren die Migrationsgeschichte in Deutschland von 1945 bis in die Gegenwart, bewahren Dokumente sowie weitere Gegenstände der Alltagsgeschichte auf. Durch die Archivierung und Digitalisierung können wir all das der Forschung zugänglich machen, auch unter Wahrung von Persönlichkeitsrechten.
Wir dokumentieren etwa die Zeitgeschichte der Seenotrettung. Bei uns liegt unter anderem der Rettungsring der »Cap Anamur I«, mit der knapp 10.000 Boatpeople aus dem Meer gerettet wurden. Diesen übergab uns einer der Geretteten, Thomas Huan Nguyen, der später selbst half, andere zu retten. Die Bestände sind in unserer Datenbank recherchierbar, Originale können gesichtet werden.